Warum (müssen) manche Deutsche im Rentenalter noch arbeiten? // Altersarmut oder Unruhestand
FIRE (Financially Independent, Retired Early) wird oft mit einem von zwei Extremen verbunden. Entweder mit einem besonders sparsamen Lebensstil (Typ „Frugalist„) oder aber mit einem extrem hohem Einkommen bereits mit Anfang 20, z.B. durch einen Job in der IT-Branche (Typ „Tech-Bro„). Doch diese beiden Stereotypen entsprechen nicht der breiten Realität in der FIRE-Community. Natürlich ist es notwendig, nicht all sein Geld sofort auszugeben, um irgendwann finanzielle Unabhängigkeit erreichen zu können. Und ein überdurchschnittliches Einkommen hilft ungemein.
Doch das allgemeine Ziel der finanziellen Unabhängigkeit (unabhängig davon, ob man anstrebt, dann nicht mehr zu arbeiten) ist weiter verbreitet als man denkt. Meiner Meinung nach ist jede Art von Altersvorsorge für die Rentenzeit ähnlich wie das Streben nach finanzieller Unabhängigkeit (vom Erwerbsleben). Nur fällt in diesem Fall idealerweise das Erreichen von „FIRE“ (im Gegensatz zu meinem Plan auch unter Einbezug der gesetzlichen Rente in den eigenen Finanzplan) mit dem offiziellen Rentenalter zusammen.
Ansonsten muss man auch als Rentner noch weiter jobben, um sich seinen Lebensunterhalt zu sichern bzw. zu halten. Das ist in Deutschland inzwischen leider immer häufiger notwendig.
Wie viele Rentner arbeiten noch?
Laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit arbeiteten 2019 rund 1,29 Millionen, also 7,8% der über 65-Jährigen bzw. 7,5% der Rentner weiterhin, die allermeisten davon (ca. 80%) auf geringfügiger Basis (450€ Job). Auch wenn es insgesamt nur eine geringe Zahl ist, stellt dies einen starker Anstieg gegenüber den Zahlen von vor 10 oder 20 Jahren dar. Im Jahr 2010 betrug die Quote der erwerbstätigen Personen über 65 Jahren z.B. nur 3,9%. Anfang der 90er waren es noch deutlich unter 3%.
Allerdings ist nicht immer klar, ob der Anstieg daran liegt, dass mehr Menschen aus finanziellen Gründen arbeiten müssen oder immer mehr einfach Spaß haben, sich weiterhin am Arbeitsleben zu beteiligen.
Gründe für den Unruhestand
Was mich in der Forschung zu diesem Thema am meisten erstaunt hat, ist die Tatsache, dass Menschen mit Enkelkindern im Schnitt häufiger im Rentenalter erwerbstätig sind als Rentner ganz ohne Enkel (aber je mehr Enkel, desto weniger Stunden). Die Gründe dafür lassen sich laut den Wissenschaftlern jedoch nicht direkt ableiten:
Ob diejenigen mit Enkelkindern eher arbeiten, weil sie monetäre Bedarfe decken müssen oder durch familiale Strukturen eher das Vertrauen haben, dass sie auch im höheren Alter noch erwerbstätig sein können, bleibt an dieser Stelle offen. Zu vermuten ist bei der letzteren Annahme, dass Ältere, die aufgrund von Kindern und Enkelkindern die Erfahrung („Mastery Experience“) machen, dass sie Tätigkeiten übernehmen können, sich dies auch im Erwerbskontext eher zutrauen.
Erwerbstätigkeitsprofile von 55- bis 70-Jährigen von Sonia Lippke, Juliane Strack & Ursula M. Staudinger, Auszug aus Abschnitt 5.6
Hohe Chancen auf Erwerbsarbeit
Die Themen Selbstverwirklichung und spürbare Selbstwirksamkeit durch die Erwerbstätigkeit spielen insgesamt eine große Rolle. Umfragen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung deuten darauf hin, dass prinzipiell eher Rentner mit hohem Bildungsniveau und hohem beruflichen Stand, wie z.B. leitende Angestellte oder Beamte im höheren Dienst, weiter arbeiten (siehe Tabelle 1 auf S. 4). Diese Ergebnisse sprechen klar dafür, dass eher aus Lust an der Arbeit im Rentenalter weiter gearbeitet wird. Zudem wird spekuliert, dass diese Bevölkerungsgruppe durch ihre Erwerbsbiographie auch insgesamt mehr Chancen auf einen Arbeitsplatz als Rentner hat, z.B. als geschätzter Berater durch langjährig aufgebautes Expertenwissen.
Selbst & ständig – auch im Ruhestand?
Besonders häufig im Rentenalter erwerbstätig sind Selbstständige. Wer keine gesetzliche Rente bezieht (also schon immer selbstständig war), arbeitet signifikant häufiger auch nach dem offiziellen Rentenalter noch. Meine persönliche Interpretation: Wenn man sowieso keine gesetzliche Rente bekommt, spielt vielleicht auch das offizielle Rentenalter als „magische Grenze“ eine deutlich geringere Rolle? Die Wahrscheinlichkeit mit 69 Jahren noch zu arbeiten liegt für Selbstständige 30% über der von (ehemaligen) Angestellten. Ob die wirtschaftliche Situation bei der Entscheidung von Selbstständigen, weiter zu arbeiten, eine Rolle spielt, bleibt in den Studien, die ich finden konnte, leider unbeantwortet. Eine Analyse (siehe S. 160, Abschnitt 4.3) zeigt jedoch, dass für etwa die Hälfe der im Rentenalter noch arbeitenden Selbstständigen ihre Erwerbsarbeit die Haupteinkommensquelle darstellt. Das ist ein deutlich höherer Anteil als bei den Angestellten. Aber natürlich ist ein etwas höherer Anteil auch in gewissen Maßen erwartbar, da nur wenige Selbstständige überhaupt gesetzliche Rente bekommen.
Notwendigkeit statt Selbstverwirklichung
Die Studien zeigen, dass finanzielle Verpflichtungen einen großen Einfluss auf die Entscheidung haben, weiter zu arbeiten. Wer beispielsweise durch Kinder in der Ausbildung oder seinen noch nicht vollständig getilgten Immobilienkredit noch größere finanzielle Verpflichtungen hat, arbeitet mit höherer Wahrscheinlichkeit im Alter. Auch zeigt sich, dass Rentner, die einer Teilzeit-Tätigkeit (wie einem 450€ Job) nachgehen, durchschnittlich weniger Einkommen haben als Rentner, die gar nicht mehr arbeiten (siehe Punkt 5.3 auf S. 86). Das könnte ein Indikator für die finanzielle Notwendigkeit für den Zuverdienst im Rentenalter sein. Auch eine weitere Studie auf Basis der Daten der deutschen Rentenversicherung deutet darauf hin, dass finanzielle Gründe bei vielen der arbeitenden Rentner im Vordergrund stehen. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die finanzielle Situation eine große Rolle spielt bei der Entscheidung, im Ruhestand zu arbeiten.
Was denn nun?
Tatsächlich zeigt eine weitere Studie, dass die Motive arbeitender Rentner eine „gewisse Dualität zwischen Lust und Last“ aufweisen. Schaut man genauer hin, ergibt sich für Männer eine Art U-förmiger Zusammenhang: Einerseits gibt es die Rentner mit eher geringem Einkommen oder hohen finanziellen Verpflichtungen, die arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen. Andererseits gibt es die überdurchschnittlich wohlhabenden Rentner, bei denen gerade nicht die finanziellen Gründe bei der Entscheidung weiterhin zu arbeiten im Vordergrund stehen. Wer sich sozio-ökonomisch gesehen eher in der Mittelschicht befindet, arbeitet eher nicht im Ruhestand.
Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast – oder so…
Interessant finde ich, wie schwierig es ist, diesen Zusammenhängen mit statistischen Methoden auf die Spur zu kommen. Denn wer es sich einfach macht und daher nur auf den Durchschnitt schaut, wird ganz andere (oder gar keine sinnvollen) Ergebnisse finden. Schon die Unterschiede zwischen Selbstständigen und Angestellten zeigen dies.
Ein weiteres Beispiel hierfür zeigt sich beim Blick auf die Geschlechterunterschiede. Während bei Frauen die Höhe der eigenen Rente keine statistisch signifikante Rolle spielt, arbeiten Männer mit einer Rente unter 750€ deutlich häufiger auch im hohen Alter. Schaut man sich aber das gemeinsame Haushaltseinkommen statt der Rente der Einzelperson an, ergibt sich wieder ein geschlechterunabhängiger Zusammenhang: In Haushalten mit niedrigen Einkommen wird häufiger noch in der Rente gearbeitet als in Haushalten mit mittleren Einkommen.
Dass sich dieser Zusammenhang nur auf Haushaltsebene, aber nicht bei der Einzelperson finden lässt, liegt laut Aussage der Forscher daran, dass die in der Statistik untersuchten Menschen hauptsächlich nach dem „klassischen Familienmodell“ mit dem Mann als Hauptverdiener gelebt haben. Die Höhe der eigenen Rente sagt daher für Frauen wenig über ihre tatsächliche finanzielle Situation aus.
Warum nicht einfach mal direkt nachfragen?
Innerhalb des sogenannten „Deutschen Alterssurveys“ werden noch erwerbstätige Rentner ab 60 Jahren explizit nach ihren Motiven hierfür gefragt. Selbstständige ohne gesetzlichen Rentenbezug scheinen hierbei aber nicht Teil des Samples zu sein.
2011 gaben immerhin 40% der Befragten auch finanzielle Gründe für ihre Entscheidung zu arbeiten an (Mehrfachnennungen waren möglich). Nur 6% gaben ausschließlich finanzielle Gründe an. Der mit Abstand meistgenannte Grund war „Spaß an der Arbeit“ mit 72%.
Da wir bereits wissen, dass es zwei sich stark voneinander unterscheidende Gruppen von arbeitenden Rentnern gibt, lohnt sich auch hier, mehr als nur den allgemeinen Durchschnitt anzuschauen.
Allein die Unterschiede zwischen den Geschlechtern finde ich schon sehr auffällig: Frauen gaben in über der Hälfte der Fälle auch finanzielle Gründe an, während es bei Männern nur ein Drittel sind. Schaut man sich dann auch noch die Relevanz von finanziellen Gründen nach Einkommensgruppen an, so zeigt sich, dass für einkommensschwächere Gruppen finanzielle Gründe deutlich wichtiger sind als für Haushalte mit einem Einkommen über 2.000€.
Hidden Biases
Leider analysieren die Wissenschaftler diesen Datensatz aus der Befragung der Rentner nicht genauso gründlich wie die anderen statistischen Daten. Zu ihrer Verteidigung: es scheint auch auf Grund des Studiendesigns mit telefonischen Interviews plus schriftlicher Selbstauskunft etwas schwieriger zu sein, an gute Daten zu kommen.
Doch die richtige Interpretation von Daten aus Befragungen erweist sich aus meiner Sicht ganz allgemein sowieso schwieriger als bei rein statistischen Daten. Denn wenn es die Möglichkeit zur Mehrfachnennung gibt, werden die Antwortenden davon meist auch Gebrauch machen. Gerade bei dieser Frage halte ich das für sehr wahrscheinlich. Denn wer gesteht sich schon gerne ein, dass er ausschließlich aus finanziellen Gründen noch arbeiten muss?
In der Psychologie nennt man das auch „Choice-supportive bias„. Wir alle kennen diese nachträgliche Begründungstendenz wahrscheinlich vom Shoppen. Selbst wenn man sich eigentlich eingestehen müsste, dass es ein Fehlkauf war oder man eine andere falsche Entscheidung getroffen hat, findet man hinterher tausend Gründe, warum man doch nicht falsch lag. Ähnlich ist es hier doch auch. Für mein Selbstwertgefühl ist es viel besser, wenn ich sagen kann: „Ich arbeite nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch, weil ich den Kontakt mit anderen Menschen in meinem Job mag“. Das muss ja auch nicht falsch sein! Aber ist das wirklich der Grund, der hinter der Entscheidung für Erwerbsarbeit steht? Kontakt zu Menschen könnte man ja auch über ein unentgeltliches Ehrenamt bekommen. In diesem Bereich sind gerade Rentner auch eine der aktivsten Bevölkerungsgruppen.
Arbeitende Rentner, das Gegenteil von FIRE
Die Forschungsergebnisse über arbeitende Rentner enthalten für mich auch einige Erkenntnisse über FIRE:
- Für einige wenige Rentner ist finanzielle Unabhängigkeit leider nicht einmal zum gesetzlichen Renteneintritt möglich. Die Zahl der älteren Erwerbstätigkeiten nimmt seit Jahrzehnten kontinuierlich zu. Wie groß hier der Anteil jener ist, die aus finanziellen Gründen arbeiten müssen, ist allerdings nur wenig erforscht. Etwa ein Drittel werden es wohl sein. Um später nicht dazu zu gehören, ist es wichtig, seine Finanzbildung auszubauen und das Thema Altersvorsorge anzugehen.
- Eine besondere Gruppe untern den arbeitenden Rentnern bilden die Selbstständigen. Ihre Motive und Charakteristika sind allerdings noch schlechter erforscht als die der allgemeinen Gruppe. Hier gibt es wohl sowohl jene, die ihren Job einfach lieben und deswegen definitiv nicht ans Aufhören denken. Das gesetzliche Rentenalter hat für diese Menschen keine echte Bedeutung. Aber es gibt auch die anderen, die als Solo-Selbstständige mehr schlecht als recht von ihrem Einkommen leben können. Nicht jeder Selbstständige ist erfolgreicher Unternehmer und daher schon lange finanziell unabhängig. Doch diese Sicht auf die Selbstständigkeit wird in der Finanzblogger-Szene gerne vermittelt – als sei es der einzige Weg zu Reichtum (und Glück). FIRE steht in diesem Narrativ nicht im Fokus, denn wenn es doch so geil ist, selbstständig zu arbeiten, warum dann aufhören? Doch die hohe Zahl weiterhin selbstständiger Rentner sollte meiner Meinung nach – wie die allgemeine Entwicklung – differenziert betrachtet werden. Wie hoch der Anteil derer ist, die weiter arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen, ist auf Grund der deutlich schlechteren Datenlage aber auch deutlich schwieriger zu bestimmen.
- Zuletzt zeigt sich aber natürlich auch eindeutig: FIRE ist nicht für jeden. Viele Menschen entscheiden sich aus Spaß an der Arbeit dafür, auch im Rentenalter noch weiter zu arbeiten. Auch wenn mir mein Job Spaß macht, gehöre ich definitiv nicht dazu 🙂
Weißt du jetzt schon, ob du als Rentner weiter arbeiten möchtest? Kennst du Rentner, die nur durch ihren Nebenjob über die Runden kommen? Strebst du persönlich FIRE an oder „nur“ die finanzielle Unabhängigkeit vom Erwerbsleben zum Renteneintritt?
Welche Ergebnisse der Studien haben dich überrascht? Welche weiteren Forschungsfragen in Bezug auf die Erwerbstätigkeit im Alter würdest du zusätzlich gerne untersucht wissen?