Sollte der Staat FIRE mehr fördern? // Die Mär vom „Staatsfeind Nummer 1“

Lesezeit: 10 Minuten

In den letzten Monaten habe ich in verschiedenen Finanzblogs und Podcasts mehrmals die folgende Behauptung gehört: Der deutsche Staat sehe Bürger, die nach FIRE streben, als Staatsfeind Nummer 1. Die Argumente, die angeführt werden, sind bunt gemischt. So würde man ja schon an der Kapitalertragssteuer und dem seit Jahren nicht angehobenen Sparerpauschbetrag sehen, dass der Staat private Altersvorsorge durch Aktieninvestments nicht besonders fördern wolle. Dieses Argument kann ich durchaus nachvollziehen, auch wenn ich hier noch keine gezielte Benachteiligung erkennen kann, die die Wortwahl Staatsfeind rechtfertigen würde.

Kleine Nebenbemerkung

Es wird auch gerne angeführt, dass die Bösewichte im Tatort besonders häufig von Beruf aus Unternehmer sind. Daraus wird dann abgeleitet, dass die öffentlich-rechtlichen Medien diesem Berufszweig besonders negativ gegenüberstehen würden. Aus dieser Statistik abzuleiten, dass „der Staat“ (wer auch immer das jetzt genau sein soll…) bewusst Unternehmertum und das FIRE-Konzept sabotieren/verhindern möchte, finde ich persönlich schon sehr weit hergeholt.

Für eine nur 90-minütige Krimiserie lassen sich mit Unternehmern, bei denen es um die eigene Existenz/Firma geht, einfach leichter schnell einleuchtende und trotzdem abwechslungsreiche Mord-Motive konstruieren als beim angestellten Buchhalter oder Beamten, bei denen im beruflichen Kontext kaum ein überzeugendes Motiv für Straftaten konstruierbar ist. Die meisten Morde passieren aus rein persönlichen Motiven, völlig abseits vom Beruf.

Insgesamt stellen der Tatort und andere Krimiserien sowieso kein realistisches Bild der Kriminalitätssituation in Deutschland dar. Hättest du gewusst, dass 2020 in Deutschland nur 245 Menschen im engeren Sinne des Begriffs tatsächlich ermordet wurden? Dazu kommen laut offizieller Kriminalitätsstatistik noch 369 Fälle von Totschlag plus einige versuchte Taten. Demgegenüber stehen aber fast 40 Folgen Tatort pro Jahr, plus all die Polizeiruf 110 und SOKO Leipzig/ München/ Wismar/… Folgen. Realistische Kriminalität sieht also sowieso ganz anders aus.

Doch zurück zur Staatsfeind-Behauptung: Im Kern wird die Hypothese aufgestellt, dass der Staat das FIRE-Konzept beim Blick auf die eigenen Finanzen gar nicht gut finden kann. Denn wer es schaffe, sich durch eine frugalistische Lebensweise frühzeitig dem Arbeitsmarkt zu entziehen, zahle durch seinen frühen Renteneintritt nicht nur weniger vom Staat dringend benötigte Steuern und Sozialabgaben, sondern konsumiere dann auch noch weniger, sodass erneut wichtige Steuereinnahmen aus der Umsatzsteuer (MwSt.) fehlen. Doch stimmt das überhaupt, dass der Nettoeffekt von FIRE auf die Staatsfinanzen tatsächlich negativ ist? Man kann auch andersherum argumentieren: Wer finanziell unabhängig ist, benötigt auch keinerlei Leistungen aus dem Sozialsystem mehr, senkt also die notwendigen Sozialausgaben. Wie hoch sind diese Ausgaben überhaupt in Deutschland?

Deutsche Sozialausgaben

Sprechen wir von Sozialausgaben, dann sind damit in Deutschland meist fünf verschiedene Versicherungen gemeint, die sich aus den von Arbeitnehmern und Arbeitgebern eingezahlten Beiträgen sowie teilweise zusätzlichen Bundeszuschüssen finanzieren:

  • gesetzliche Krankenversicherung
  • gesetzliche Pflegeversicherung
  • gesetzliche Unfallversicherung
  • gesetzliche Rentenversicherung
  • Arbeitslosenversicherung inkl. ALG II / Hartz IV

Zu den Sozialausgaben im Sinne des Sozialberichts zählen aber noch viele weitere Posten wie zum Beispiel Kindergeld und Mutterschutzgeld, Steuerermäßigungen wie die Förderung von Riester-/Rürup-Renten oder Kinderfreibeträge bei der Einkommenssteuer sowie die Sozialhilfe, die von den einzelnen Gemeinden finanziert wird, wenn alle anderen Sicherungssysteme wie Hartz IV (was nur von Erwerbsfähigen bezogen werden kann) nicht mehr greifen.

Insgesamt werden sich die Sozialausgaben in Deutschland 2021 auf voraussichtlich 1,1 Billionen Euro aufsummieren. Dies entspricht einem Drittel des deutschen Bruttoinlandsprodukts. Die Kranken-, Unfall- und Pflegeversicherung (inzwischen 14% des BIPs bzw. 43% aller Sozialleistungen, grüne Linie) macht zusammen mit der Renten- und Hinterbliebenenversorgung (10-12% des BIPs bzw. 37% aller Sozialleistungen, blaue Linie) den größten Anteil aus.

Quelle: Sozialbericht 2021, S. 251

Finanzierung dieser Sozialausgaben

Jetzt ist es aber natürlich nicht so, dass der Staat (im Sinne des Bundes, der Länder oder der Gemeinden) all diese Sozialleistungen alleine finanzieren muss. In den eben aufgezählten fünf großen Sozialversicherungen wird ein Großteil der Ausgaben direkt über die eingenommenen Beiträge finanziert. In Summe belaufen sich die staatlichen Zuschüsse nur auf etwa ein Drittel (2020: 34,1%). Dies entspricht für 2020 bzw. 2021 einem Budget von ca. 400 Milliarden Euro.

Quelle: Sozialbericht 2021, S. 306

Der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung macht dabei mit 97,4 Milliarden den größten Anteil aus. In den letzten vier Jahren betrug hier die Steigerung ganze 17%. Insgesamt 134 Milliarden fließen als Zuschuss in die fünf Sozialversicherungen. Selbst die Arbeitslosenversicherung, die sich auf Grund der guten wirtschaftlichen Entwicklung seit einigen Jahren eigentlich vollständig aus den Beitragseinnahmen finanziert bzw. sogar Überschüsse generieren konnte, musste 2020 und 2021 ihre Rücklagen aufbrauchen, um die durch die Corona-Kurzarbeiter-Welle sprunghaft angestiegenen Kosten tragen zu können. 2022 werden alle bisherigen Rücklagen aufgebraucht sein, trotz eines Bundeszuschuss von 7 Milliarden 2020 und wahrscheinlich noch einmal halb so viel für 2021.

Wenn ich eine konservative Schätzung abgeben müsste, welcher Teil der staatlichen Sozialausgaben eingespart werden könnte, wenn mehr Menschen komplett finanziell unabhängig wären, würde ich auf jeden Fall die Zuschüsse zur Rentenversicherung und die Zuschüsse zur Arbeitslosenversicherung einbeziehen. Hinzu kommen Effekte in anderen Versicherungsarten und Sozialsystemen, wie z.B. beim Kinder- oder Elterngeld, dem Krankengeld (28 % aller Gesundheitsleistungen werden als Einkommen ausgezahlt!) und den Sozialbeiträgen für Pflegende Angehörige sowie der Sozialhilfe außerhalb von Hartz IV.

Ich schätze, dass im Haushalt 2021 ca. 160 Milliarden Euro, also 40% des gesamten staatlichen Zuschuss mit einer größtenteils finanziell unabhängigen Bevölkerung eingespart werden könnten. Dieser Betrag wird laut Prognosen durch die staatlichen Zuschüsse zur Rentenversicherung in den kommenden Jahren eher ansteigen als sinken, sofern es keine Rentenreform (z.B. mit Anhebung des Rentenalters) gibt.

Doch wie viele arbeits- und konsumbezogene Einnahmen stehen diesen 160 Milliarden Euro Ausgaben für die Rente und Arbeitslosenabsicherung gegenüber?

Blick auf die Einnahmenseite

In Summe haben Bund, Länder und Gemeinden 2020 insgesamt 740 Milliarden Steuern eingenommen. Davon entfallen etwa 210 Milliarden auf die Lohnsteuer (2020). Hinzu kommen etwa 60 Milliarden Euro Einkommenssteuern, die zum größten Teil aus den Einnahmen Selbstständiger resultieren. Zusätzlich muss man für 2020 auch noch etwa 19 Milliarden Solidaritätszuschlag berücksichtigen, der aber 2021 wahrscheinlich deutlich kleiner ausfallen wird.

Steuerart201820192020
Steuereinnahmen insgesamt776 263799 308739 703
Gemeinschaftsteuern566 941587 272540 281
Lohnsteuer208 231219 660209 286
Veranlagte Einkommensteuer60 41563 71158 982
Nicht veranlagte Steuern vom Ertrag23 17623 48521 498
Abgeltungsteuer
(einschließlich ehemaliger Zins­abschlag)
6 8935 1466 763
Körperschaftsteuer33 42532 01324 268
Umsatzsteuer175 437183 113168 700
Einfuhrumsatzsteuer59 36360 14350 784
Bundessteuern108 586109 548105 632
Versicherungsteuer13 77914 13614 553
Tabaksteuer14 33914 25714 651
Kaffeesteuer1 0371 0601 060
Alkoholsteuer 12 1332 1182 238
Alkopopsteuer2111
Schaumweinsteuer378384405
Zwischenerzeugnissteuer171923
Energiesteuer40 88240 68337 635
Stromsteuer6 8586 6896 561
Kraftfahrzeugsteuer 9 0479 3729 526
Luftverkehrsteuer1 1871 182292
Kernbrennstoffsteuer– 0– 0
Solidaritätszuschlag18 92719 64618 676
Pauschalierte Eingangsabgaben221
Sonstige Bundessteuern000
Landessteuern23 91325 85027 775
Vermögensteuer– 0– 0– 0
Erbschaftsteuer6 8136 9878 600
Grunderwerbsteuer14 08315 78916 055
Rennwett- und Lotteriesteuer1 8941 9752 044
Feuerschutzsteuer467482510
Biersteuer655617566
Zölle5 0575 0854 703
Gemeindesteuern71 76571 55361 313
Grundsteuer A (Land- und Forstwirtschaft)405407410
Grundsteuer B (Sonstige Grundstücke)13 79714 03214 266
Gewerbesteuer55 85255 41945 295
Sonstige Steuern 21 7101 6941 342
1: Bis 2017: Branntweinsteuer. 2: Ohne steuerähnliche Einnahmen.
Kassenmäßige Steuereinnahmen des Bundes, der Länder und der Gemeinden nach Steuerarten vor der Steuerverteilung in Millionen Euro
Quelle: Statistisches Bundesamt

Die Umsatzsteuer auf Konsumgüter macht etwa 170 Milliarden aus und ist damit die zweitgrößte Einkommensquelle für den Staat hinter der Lohnsteuer. Durch unseren Konsum spülen wir Verbraucher dem Staat aber neben dieser „normalen“ Mehrwertsteuer auch noch geschätzt ca. 30 Milliarden an Konsum-Sondersteuern z.B. auf Tabak, Kaffee, Alkohol und Schaumweine in die Kasse. Die Energiesteuer ist mit einem Volumen von ca. 40 Milliarden übrigens der größte Einzelposten unter diesen Sondersteuern.

Veränderungen durch FIRE

Weniger Arbeitslohn = weniger Lohnsteuer

Hat jemand FIRE erreicht, ist also Retired Early, zahlt diese Person per Definition keine Lohnsteuer mehr. Allerdings fallen mit FIRE natürlich nicht alle Lohnsteuereinnahmen auf einmal weg, sondern nur jene während der Entnahmephase – also nach Erreichen von FIRE. Mein FIRE-Plan als Beispiel zum besseren Verständnis:

  • In den ersten 20 Jahren des Berufslebens wird gearbeitet, Lohnsteuer gezahlt, gespart und investiert
  • Mit 45 Jahren ist FIRE erreicht und der Vorruhestand beginnt
  • Die folgenden 25 Jahre des Erwerbslebens wird keine Lohnsteuer bezahlt, aber auch kein Arbeitslosengeld o.ä. Sozialleistungen bezogen
  • Mit 70 Jahren würde eigentlich eine 30-jährige Altersrentenphase beginnen, aber wer FIRE erreicht hat, ist nicht auf die Altersrente angewiesen

Von eigentlich 45 Jahren erwerbsfähiger Zeit (vom Alter 25 bis 70) wird in diesem Beispiel also nur 44% der Zeit (20 von 45 Jahren) lang Lohnsteuer gezahlt. 56% der Lohnsteuersteuereinnahmen inkl. Solidaritätszuschlag würden dementsprechend wegfallen, wenn jeder Deutsche bereits mit 45 FIRE erreicht hätte. Dies entspricht im Extremfall „Rente mit 45“ einem Volumen von ca. 130 Milliarden. Um in so kurzer Zeit (20 Jahre Berufsleben) so viel ansparen zu können, muss man allerdings wohl auch sehr gut verdienen und zahlt dementsprechend auch viel Lohnsteuer, wahrscheinlich ohne jemals auf die Arbeitslosenversicherung angewiesen zu sein.

Bei einer deutlich realistischeren Annahme der „Rente mit 55“ (also 30 aktiven Arbeitsjahren und 15 Jahren Vorruhestand) sinken die durch „flächendeckendes FIRE“ schwindenden Einnahmen auf nur noch ca. 75 Milliarden Euro pro Jahr.

Weniger Konsum = weniger Umsatzsteuer

Es lässt sich argumentieren, dass es ergänzend zum Lohnsteuereffekt durch eine frugalistische Lebensweise auch Einbußen bei der Umsatzsteuer geben könnte. Allerdings glaube ich persönlich nicht daran, dass es sich lohnt, sich lebenslang einzuschränken, nur um finanzielle Unabhängigkeit zu erreichen. Ein Großteil unseres Budgets ist sowieso nicht reduzierbar, denn jeder Mensch braucht ein vernünftiges Dach über den Kopf und muss sich gut ernähren können.

Für FIRE mit 55 (also ca. 30 Jahre nach dem Berufseinstieg für Akademiker) ist laut dem stark vereinfachenden Rechner auf frugalisten.de eine Sparquote von 28% notwendig. Die Sparquote der deutschen Haushalte liegt (abseits von Corona-Sondereffekten) bei ca. 10%. Wer also auf die für FIRE notwendigen Sparquote kommen möchte, muss sein Konsumbudget von durchschnittlich 90% des Einkommens auf 70% herunterschrauben. Das ist für viele Deutsche nicht erreichbar, ohne sich massiv einschränken zu müssen. Aber nehmen wir es für unsere heutiges Gedankenexperiment einfach einmal an.

Der private Konsum müsste also rechnerisch um Pi mal Daumen 20% Prozentpunkte abnehmen, was ganz, ganz grob überschlagen auch etwas mehr als 20% Abnahme entspricht. Man könnte also annehmen, dass die Umsatzsteuereinnahmen plus relevanter Konsumsondersteuern (z.B. Tabak, Alkohol) um insgesamt ca. 40-50 Milliarden abnehmen würde.

In Summe hätte der Staat bei lauter FIRE-Enthusiasten somit durch das vorzeitige Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt und das ggf. verringerte Konsumniveau Steuereinbußen von ca. 115-125 Milliarden Euro zu verkraften.

Mehr Investitionen = mehr Kapitalerträge

Demgegenüber würden aber durch mehr Investoren auch deutlich höhere Steuereinnahmen auf Basis der Kapitalertragssteuer und anderer Steuern auf Zinsen, Dividenden und sonstige Einnahmen aus Investitionen entstehen. Hier nimmt der Staat aktuell deutlich weniger als 30 Milliarden ein. Doch wenn viel mehr Menschen ihren Lebensunterhalt statt aus dem Arbeitseinkommen aus Kapitalvermögen bestreiten würden, würde dieser Betrag auch deutlich anwachsen. Eine genaue Abschätzung fällt hier schwer, aber diesen Effekt sollte man trotzdem bei der Gesamtbetrachtung nicht vernachlässigen.

Ersparnisse für den Staat > Einbußen durch FIRE?

Wenn ich mir die verschiedenen Sozialausgaben und Steuervolumina anschaue, die durch finanzielle Unabhängigkeit beeinflusst werden können, würde ich argumentieren, dass der Staat trotz teilweise sinkender Steuereinnahmen in der Lohn- und Umsatzsteuer (ca. 115-125 Milliarden) in Summe eher davon profitieren würde, wenn in Zukunft weniger Ausgaben für die gesetzliche Renten- und Arbeitslosenversicherung sowie weitere soziale Sicherungssysteme notwendig sind (geschätzt ca. 160 Milliarden). Die Netto-Ersparnis könnte in der Größenordnung von 35-45 Milliarden Euro liegen und berücksichtigt dabei noch nicht einmal die Mehreinnahmen bei der Kapitalertragssteuer.

Aber: Dieser positive Nettoeffekt setzt voraus, dass Personen, die FIRE erreicht haben, keinerlei Ansprüche an die gesetzliche Rentenversicherung oder Arbeitslosenversicherung stellen würden. Ich persönlich rechne in meinem FIRE-Plan zwar mit einer gesetzlichen Rente von 0 Euro, würde aber trotzdem offiziell Rente beziehen, um z.B. von den Vorteilen bei der gesetzlichen Krankenversicherung (=einem staatlichen Zuschuss) zu profitieren. Ob ich nach meiner FIRE-Kündigung für ein Jahr Arbeitslosengeld I beantragen werde, weiß ich hingegen noch nicht. Aktuell tendiere ich aus moralischen Gründen (ich brauche das Geld ja dann nicht wirklich) eher dagegen.

Die Grundlogik unseres Rentensystems, nämlich dass Einzahlungen einen Auszahlungsanspruch begründen, egal wie die sonstige Einkommens- und Vermögenssituation des Rentners aussieht, wird wohl auch etwaige zukünftige Rentenreformen überdauern. Wenn also weiterhin jeder gesetzliche Rente bezieht, auch wenn er oder sie durch bereits vorher erreichte finanzielle Unabhängigkeit dieses Einkommen eigentlich gar nicht zum Leben braucht, verschwinden die vermeintlichen Ersparnisse des Staats bei den Zuschüssen zur gesetzlichen Rentenversicherung. Der vergleichsweise kleine Zuschuss zur Arbeitslosenversicherung stände somit deutlichen Einbußen bei der Lohnsteuer gegenüber. Der Nettoeffekt auf die Staatsfinanzen, wenn ein Großteil der Bevölkerung tatsächlich FIRE anstreben würde, wäre also tatsächlich als negativ auszusehen.

Die Staatsfeind Nummer 1-Behauptung halte ich trotzdem für maßlos übertrieben. Denn auf der Ebene der Einzelperson sieht die Bilanz aus gezahlten Steuern und Sozialbeiträgen und im Gegenzug dazu empfangener Sozialleistungen sogar sehr positiv für den Staat aus! Bis zu FIRE, also meinem geplanten Ausstieg aus dem Arbeitsleben, mit 45 Jahren werde ich ca. eine Million Euro an Steuern und Sozialbeiträgen (exkl. Kranken-/Pflegeversicherung) eingezahlt haben, ohne (hoffentlich / zum Glück!) jemals Leistungen aus der Arbeitslosen- oder Invaliditätsversicherung oder anderer sozialer Sicherungs- oder Fördersysteme abgerufen zu haben. Die Krankenversicherung im engeren Sinne (ohne Lohnersatzleistungen wie Krankengeld) schließe ich bewusst aus dieser Betrachtung aus, da hier kein Geld an den Betroffenen fließt.

Bin ich verbittert über so einen hohen Beitrag zum deutschen Sozialsystem, aus dem ich hoffentlich niemals Leistungen beziehen werde? Nein, absolut nicht. Durch eine quasi kostenlose, hochqualitative Ausbildung, die eben auch durch meine Steuern finanziert wird, sowie die Steuererleichterung z.B. bei Riesterverträgen und sonstigen Altersvorsorgeaufwendungen habe ich nämlich trotzdem in meinem bisherigen Leben bereits sehr vom deutschen Sozialstaat profitiert. Und wenn es doch mal einen unerwarteten Schicksalsschlag für mich oder andere Menschen in meinem Leben gibt, bin ich froh um das Netz der deutschen Sozialversicherung.

Streben nach finanzieller Unabhängigkeit ist für alle positiv: dich und den Staat

Zum Abschluss noch ein ganz anderer Gedanke: Man sollte bei einer Gesamtbetrachtung des Nettoeffekts von FIRE auf den Staat aus meiner Sicht nicht unterschätzen, welchen positiven psychologischen und gesundheitlichen Effekt die zusätzliche Freiheit, die einem finanzielle Unabhängigkeit auch auf dem Weg dahin bereits bietet, haben kann. Dieses gesteigerte Wohlbefinden und Glück lässt sich zwar nicht direkt in Geld messen, könnte aber durchaus zu einer spürbaren Entlastung der gesetzlichen Krankenversicherungen führen. Die Finanzen sind immerhin einer der häufigsten Gründe für Streit in Beziehungen und Stress im Allgemeinen.

Ich würde vom Bauchgefühl her sagen: Mehr Finanzbildung und das Streben nach finanzieller Unabhängigkeit sind Anliegen, die der Staat eher fördern als sabotieren sollte. Der Bundeshaushalt ist durch ein paar tausend engagierte Frugalisten und FIRE-Anhänger auf jeden Fall nicht in Gefahr. Und wer gar nicht für den extremen Vorruhestand in jungen Jahren, sondern einfach nur für einen schönen Lebensabend und eine abgesicherte Altersvorsorge spart und investiert, sollte eigentlich noch deutlich mehr gefördert werden als bisher. Eine Anhebung des Sparerpauschbetrags wäre da doch ein erster wünschenswerter Schritt 🙂

Welche Sozialausgaben ließen sich durch mehr finanzielle Unabhängigkeit deiner Meinung nach noch einsparen? Welche Steuereinnahmen würden deiner Meinung nach signifikant sinken (z.B. die KFZ- oder Tabaksteuer)? Welche Effekte auf den Staatshaushalt gäbe es möglicherweise noch? Fühlst du dich vom Staat auf deinem Finanzweg genügend unterstützt und gefördert? Oder kommt es dir eher so vor, als würden uns Investoren bewusst Steine in den Weg gelegt?

8 Replies to “Sollte der Staat FIRE mehr fördern? // Die Mär vom „Staatsfeind Nummer 1“”

  1. Hallo Nichte,
    schöner Artikel!
    Ich erlaube mir zwei Anmerkungen:
    1. Ich gehe jede Wette ein, dass die Zahl derer in Ministerien, Behörden und auf Referentenebene in den Bundestagsfraktionen (=der Staat), die sich tatsächlich mit FIRE befasst, geschweige denn davon überhaupt schon gehört haben, sehr gering ist. Weshalb das Phänomen FIRE für den Staat nicht auf dem Schirm sein dürfte. Statt also von Fireianern als Staatsfeind Nr. 1 zu reden, halte ich es für angebracht von für den Staat Unsichtbaren zu sprechen. Zumal sich die Zahl „echter “ FIRE-Kandidaten aus staatlicher Sicht hierzulande ohnehin im Promille-Bereich bewegen dürfte.
    2. Viel interessaner scheint mir die Frage zu sein, wie das Verhältnis des Staates zu finanziell unabhängigen Menschen ist, die es sich leisten können, ihre (kritische) Meinung frei zu artikulieren, ohne negative Effekte im beruflichen Umfeld oder bei Kunden zu spüren.
    Es grüßt
    Mirko

    1. Hallo Mirko,
      ja, da hast du auf jeden Fall Recht. Die meisten Politiker haben ja leider nicht einmal ein Basis-Finanzwissen. Daher ist die Staatsfeind Nr. 1 Hypothese aus meiner Sicht auch so unsinnig. Dazu müsste man ja erstmal davon wissen 😉

      Ich persönlich fühle mich, auch wenn ich noch nicht finanziell unabhängig bin, nicht in meiner Meinungsfreiheit eingeschränkt. Wenn man selbstständig ist und von spezifischen Kunden abhängt, kann das natürlich ggf. ein Punkt sein. Aber das kommt ja auch auf die eigene Meinung bzw. die Meinung des Gegenübers an, ob das wirklich viel Konfliktpotential birgt. Ist deine persönliche Einschätzung da eine andere?
      Viele Grüße
      Jenni

      1. Hallo Jenni,
        es ist natürlich nur mein sehr persönlicher Eindruck, aber ich meine, dass die Spielräume des öffentlich Sagbaren hierzulande (aber längst auch in der angelsächsischen Sphäre) sich immer weiter verengen. Ein sehr perfides Mittel, um Menschen zum Schweigen zu bringen, ist es, die nicht opportune Meinung mit wirtschaftlichen Strafen und sozialer Ächtung zu sanktionieren. Spiele einfach einmal den advocatus diaboli und vetrete unter deinen Kollegen eine andere Meinung als die des Mainstreams – das würdest du natürlich nicht tun. Warum wohl nicht?
        Genauso wenig ist es als Unternehmer ratsam, allzu auffällig mit deiner freien Meinung in Erscheinung zu treten, wenn du beispielsweise von kommunalen oder staatlichen Aufträgen abhängig bist. Da wäre es ökonomischer Selbstmord etwa zu laute Kritik an den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu äußern.
        Oder du verdienst deinen Lebensunterhalt mit Youtube-Kanälen. Äußere dich da einmal unwoke; da kannst du sehr schnell sehen, was cancel culture bedeutet. Auch hier geht es direkt ans Eingemachte – deine ökonomische Existenz.
        Mir geht es nicht darum, bestimmte abweichende Meinungen zu vertreten; aber dass man sie vertreten k a n n, ohne Angst vor (ökonimischen) Repressalien haben zu müssen, ist in meinen Augen ein Grundrecht. Ich fürche leider, dass wir in Zeiten leben, in denen man sich eine freie Meinung auch leisten können muss.
        Es grüßt
        Mirko

        1. Hallo Mirko,
          also zumindest in meinem beruflichen Umfeld werden lauter politische Meinungen ganz offen diskutiert. Die Finanzbranche ist durch den hohen Einfluss von Regulatorik und staatlichen Entscheidungen da vielleicht aber auch besonders. Da wird lobbyiert, ohne rot zu werden, sodass sich wohl auch eingebürgert hat, über andere, nicht-Finanz-Themen offen politisch zu streiten.
          Die Fragen ist natürlich immer, ob man sich noch im echten Diskurs befindet (mit Argumenten, Fakten und Meinungen) oder nur noch im Meinungsraum (ohne Bezug zu Fakten). Gerade beim Thema Corona habe ich auch echt viel völligen Stuss gehört, das kann man wirklich nicht mehr Meinung nennen, da es von den Fakten völlig entkoppelt ist. Ich kenne hingegen dann wieder einige Selbstständige, die von den Lockdowns stark betroffen waren geschäftlich und sich dementsprechend natürlich auch kritisch geäußert haben zu allerlei staatlichen Anordnungen. Ich konnte da nicht beobachten, dass dies nicht akzeptiert worden wäre. Aber wie so oft im Leben gilt ja auch: der Ton macht die Musik. Wer Quatsch erzählt, muss auch die Kritik aushalten können, die das mit sich bringt. Oft wird gerade von denen, die abnehmende Meinungsfreiheit lamentieren, auch der Wunsch gehegt, keinerlei Widerworte zu ihrer Position zu hören. So funktioniert Meinungsfreiheit aber nicht.
          Viele Grüße
          Jenni

          1. Hallo Jenni,

            ich stimme Mirko in allen Punkten zu. Meinungsfreiheit muss man sich leisten können und darum ist finanzielle Unabhängigkeit auch so attraktiv.

            „Die Fragen ist natürlich immer, ob man sich noch im echten Diskurs befindet (mit Argumenten, Fakten und Meinungen) oder nur noch im Meinungsraum (ohne Bezug zu Fakten). Gerade beim Thema Corona habe ich auch echt viel völligen Stuss gehört, das kann man wirklich nicht mehr Meinung nennen, da es von den Fakten völlig entkoppelt ist.“

            Diese Position kenne ich gut, sie entspricht in etwa der Haltung in den Redaktionen der öffentlich-rechtlichen Medien. Für mich ist dieser Standpunkt aber problematisch, weil bei dieser Art der Unterscheidung zwischen akzeptablen und inakzeptablen Meinungen doch immer die Frage auftaucht, wer denn dann die Deutungshoheit hat. Wer entscheidet denn, ob eine Position „Stuss“ ist? Gibt es dafür ein Gremium? Wer wählt dieses Gremium? Dürfen nur die es wählen, die keinen „Stuss“ erzählen?

            Eine freie Gesellschaft braucht den offenen Diskurs und auch den Stuss. Die Meinungsfreiheit ist ein Muskel, der trainiert werden muss. Im Moment zensieren sich für meinen Geschmack viel zu viele Leute selber – aus den Gründen, die Mirko aufgeführt hat.

            Schöne Grüße aus Köln

            Christian

  2. Hallo,

    ich bezweile sehr, dass der Staat FIRE fürchtet und sehe auch nicht den Zusammenhang zur Meinungsfreiheit.

    Die inhaltlich eher diffus negativen Beiträge von Mirko lassen mich hier mit einem eher unguten Gefühl zurück.

    Zum „was man sagen darf“ unterscheidet man zumindest in meiner Welt unterschiedliche Fälle:

    1. Die persönliche Meinung im beruflichen Kontext.

    Ich arbeite im Bereich Transformation des Energiesystems. Wer dort den menschgemachten Klimawandel anzweifelt ist für den Job nun mal schlecht geeignet. Wer als Ärztin die Meinung vertritt die Corona Pandemie sei eine erfundene Elitenverschwörung hat in dem Job nichts mehr verloren.
    Ich kann auch nicht Statiker sein und die Gravitation anzweifeln.

    2. Die persönliche Meinunung ohne beruflichen Kontext

    Wenn bei mir einer die Pandemie für eine Weltverschwörung hält und die Impfung für ein Unfruchtbarkeitsserum, dann hat das erstmal wenig unmittelbare Konsequenzen, es sei denn man hat

    3. Die Idiotie

    Wer Meinungen vertritt, die im 21. Jahrhundert einfach nur idiotisch sind, den möchte ich auch nicht als Kollegen haben. Idioten können gefährlich sein. Meiner persönlichen Ansicht nach ist die Grenze zur Idiotie erstaunlich oft überschritten, gerade im Bereich der Verschwörungstheorien.
    Ein pauschales „Man darf in Deutschland nichts mehr sagen“ ist da schon nahe dran.

    4. Strafrechtliche Relevanz:

    Ich denke das muss ich nicht nähern erläutern, dass die freie Meinung auch Grenzen hat, dort wo es strafrechtlich relevant wird. Auch das ist aber erstaunlich vielen Menschen aber ganz offenbar nicht bewusst bzw. sie glauben, es hätte für sie (dauerhaft) keine Konsequenzen, nur weil man bisher damit davon kam.

    Zurück zu FIRE: Die Anzahl der (jungen) Privatiers ist in Deutschland so gering, dass die keine Rolle spielen und auch in Zukunft nicht spielen werden.
    Dass das Thema derzeit medial so präsent ist liegt vermutlich an 12 Jahren Börsen- und Immobilienboom und der aktuellen Möglichkeit, mit Youtube und Buchverkäufen zu solchen Themen viele Leute potenziell erreichen zu können, womit ein paar wenige (aber eben medial sehr präsente) Leute zu Wohlstand kommen konnten.
    Ich kenne die Zukunft auch nicht, aber noch ein paar Jahren Bärenmarkt und fallenden Immobilienpreisen wird die Popularität des Themas ratzfatz wieder abnehmen. Das war auch Anfang der 2000er schon so.
    Und wenn es dann irgendwann wieder einen langen Boom gibt kommt es wieder hoch, usw, usf…

    Weitaus relevanter für die künftigen Einnahmen des Staates wäre das Thema Erbschaftssteuern.
    Die Zahl der durch sparen von Erwerbseinkomm finanziell unabhängigen ist verschwindend klein in Relation zu den durch Erbschaft finanziell unabhängigen.

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