Gastbeitrag: Was haben Poker und Investieren gemeinsam? // Glücksspiel oder nicht

Lesezeit: 8 Minuten

Inzwischen eine Tradition: Zum 3. Blog-Geburtstags von Dagoberts Nichte gibt es heute einen Gastartikel, der gerade im aktuellen Marktumfeld an der Börse viele Lektionen enthält, die Gold wert sind. Viel Spaß beim Lesen!

Hallo liebe Leser,

ich bin mit Dagoberts Nichte befreundet aus Schulzeiten und bin professioneller Pokerspieler. Ja wirklich, und nein, keine Sorge, mein Alltag sieht nicht aus wie in Hollywoodfilmen, wo der Bösewicht unter dem Tisch die Pistole auf mich richtet oder zwischen den Partien versucht mich zu vergiften. Ich sitze die meiste Zeit zuhause vor dem Computer. So glamourös ist es also gar nicht, am ehesten vielleicht vergleichbar mit dem Job eines Daytraders. Einige Male im Jahr verschlägt es mich auch mal nach Orte wie Las Vegas für die World Series of Poker, aber mein Brot und Butter sozusagen ist Onlinepoker.

Poker & Investieren = beides Glücksspiel?

Viele Leute denken, dass Poker ein Glücksspiel ist. Damit werde ich häufig konfrontiert. Das eigentliche Thema dieses Blogs sind ja Finanzen. Vielleicht ist euch beim Gesprächsthema Investieren an Finanzmärkten ja auch schon einmal entgegnet worden „Das ist doch nur Zockerei!“ oder so. Ich entgegne dann, wenn es um Poker geht, dass ein guter Spieler langfristig immer Profit machen wird. Als hobbymäßiger Börseninvestor glaube ich hier durchaus Parallelen zu erkennen. Ich denke, dass man auch an der Börse mit einem langen Zeithorizont einen nahezu sicheren Profit erzielen kann.

Alles eine Frage des Zeithorizonts

Was allerdings stimmt, und sicherlich viele Menschen abschreckt, ist, dass es kurz- bis mittelfristig starke Abweichungen von diesem zu erwartenden positiven Ergebnis geben kann. Es stellt sich natürlich die Frage, was ist eigentlich ein Zeithorizont, der lang genug ist und wo verschwimmt die Grenze zwischen Glücksspiel und sinnvollem Investment. Darüber möchte ich in diesem Blog schreiben und auch darauf eingehen, wie ein Entscheidungsfindungsprozess in meinem Arbeitsumfeld aussieht, der mit so viel Risiko und Volatilität behaftet ist.

„Auf lange Sicht gibt es beim Poker kein Glück, aber die kurze Frist ist länger, als die meisten Leute wissen.“

Rick Bennet

Spiel der Wahrscheinlichkeiten

Ich kann in diesem Blog nicht im Detail darauf eingehen, wie eine positive Winrate als Pokerspieler zustande kommt. Erstens würde das den Rahmen sprengen und zweitens möchte ich hier nicht alle meine Geheimnisse verraten 😉.

Aber Poker ist das einzige Casinospiel, in dem man gegen andere Spieler spielt und nicht gegen das Haus. Wenn ich also langfristig bessere Hände spiele als meine Gegner kann ich gewinnen. Den Reiz macht aus, dass es nicht zu 100% ein Strategiespiel ist wie Schach und nicht zu 100% Glück wie die Lotterie.

Dadurch, dass jeder Spieler beim Poker zwei verdeckte Karten bekommt, haben alle Spieler unvollständige Informationen, wie an der Börse. Und selbst wenn mehrere Spieler All-In gehen und ihre Karten aufgedeckt werden, aber noch Karten in der Mitte aufzudecken sind, ist es kühl mathematisch gesehen ein Spiel der Wahrscheinlichkeiten.

Beispiel

So etwa hier in dieser klassischen Pokerhand, wo ein starker Spieler ein höheres Paar hat als ein schwacher Spieler. Selbst in dieser dominierenden Situation kann der schwächere Spieler in etwa einem von fünf Fällen gewinnen, wenn z.B. eine weitere Dame gelegt wird oder er eine Straße macht.

Hier kann man also in Einzelfällen „Pech haben“, aber wenn beide 50€ in den Pot investiert haben, stehen dem Spieler mit Assen langfristig etwa 80€ aus dem Pot zu. Wenn ich es nun schaffe, möglichst häufig derjenige mit der besseren Hand zu sein, werde ich langfristig profitabel sein.

It’s just variance

Nun möchte ich einen mathematischen Exkurs wagen, um aufzuzeigen, was eigentlich die sogenannte „Glückskomponente“ beim Poker ist, die eben dazu führt, dass auch mal ein Paar Damen gegen ein Paar Asse gewinnen kann. Wenn ich alle menschlichen Emotionen außen vor lasse, ist es nämlich nur Varianz.

Als gängige Metrik, um unseren Erwartungswert beim Poker zu berechnen, benutzen wir die Anzahl an gewonnenen Big Blinds (großer Pflichteinsatz) pro 100 Hände, im Folgenden bb/100. Ein guter Pokerspieler sollte etwa eine Winrate von 4 bb/100 erreichen, welche wir für das folgende Beispiel verwenden.

Eine gängige Standardabweichung von diesem Erwartungswert in den normalen Pokervarianten ist 100 bb/100. Als professioneller Pokerspieler kann man damit rechnen etwa 200.000 Hände im Jahr zu spielen. Schauen wir uns mal mit einem Varianzrechner 1000 verschiedene Outcomes für dieses Beispiel an.

Es fällt sofort auf, dass die Werte auch am Ende des Jahres noch sehr weit gestreut sind. Angenommen man spielt als Pflichteinsätze 5€/10€. Es ergibt sich also in unserem Beispiel ein Erwartungswert von 8.000 bb oder 80.000€ Profit zum Jahresende. Die Ergebnisse im 70% Konfidenzintervall liegen zwischen 35.280€ und 124.720€ Profit, im 95% Konfidenzintervall sogar zwischen -9.440€ und +169.440€.

Es gibt also die reale Möglichkeit am Ende des Jahres als solide gewinnender Pokerspieler kein Einkommen zu haben, hier in 3,68% der Fälle. Pro halbes Jahr, oder 100.000 gespielten Händen, steigt diese Wahrscheinlichkeit im Übrigen schon auf 10,30% an.

Was bedeutet das in der Praxis?

Nehmen wir nun der Einfachheit halber an, dass wir im Jahr 10 Monate à 20.000 Händen spielen (und zwei Monate Urlaub machen oder so). Auf diese Sample Size sind wir mit 4BB/100 Winrate zu 28,48% am Ende des Monats im Minus und die Wahrscheinlichkeit mindestens einen Verlustmonat im Jahr zu haben beträgt 1 – (1 -0,2848)^12 = 98,21%. Es ist also für einen guten Pokerprofi fast garantiert, jedes Jahr mindestens einen Verlustmonat zu haben.

Aus der Erfahrung kann ich berichten, dass das zur absoluten Normalität zählt und man lernen muss damit umzugehen. Aber die Rechnungen müssen natürlich trotzdem bezahlt werden 😉

Die Rechnung für Hobbyspieler sieht anders aus

Es muss angemerkt werden, dass wir hier über ein Volumen an Händen sprechen, auf dass nur Spieler kommen, die sich fast täglich damit beschäftigen. Wenn ich als Freizeitspieler mal ab und zu abends ins Casino gehe, wie es ja die meisten tun, dann werden mir dort an einem normalen Tisch etwa 30 Hände pro Stunde ausgeteilt, also vielleicht 100-200 Hände pro Abend. Und wenn ich nun wie im obigen Beispiel geduldig auf mein Paar Asse warte, um gegen ein paar Damen All-In zu gehen und zu verlieren, ist das natürlich Pech und ärgert mich maßlos, weil ich alles richtig gemacht habe und trotzdem mit Verlust nach Hause fahre. Das kann man wohl so sagen.

Parallelen zur Börse

Sowohl beim Poker als auch beim Investieren unterliegt die Kursentwicklung dem Zufallsprinzip und der Volatilität, die wir nicht kontrollieren können. Manchmal ist das schwer zu akzeptieren. Auf die Frage, wie sich der S&P500 diesen Monat entwickeln wird oder ob ich bei diesem Pokerturnier erfolgreich sein werde, gibt es nur eine einzige Antwort, die einen Wert hat – ich weiß es nicht. Das mag beunruhigend sein – aber es ist die Wahrheit.

Don’t tilt

Eine Grundvoraussetzung, um als erfolgreicher Pokerspieler (und vielleicht auch als Investor) zu bestehen, ist die Fähigkeit, sich eben nicht emotional von kurzfristigen Ergebnissen beeinflussen zu lassen. Dazu gehört es, zu akzeptieren, dass selbst das „richtige“ Spiel am Ende etwas kosten kann. Auch das nächste Blatt muss wieder leidenschaftslos gespielt. Ein großartiger Spieler zeichnet sich dadurch aus, dass er es vermeidet, auf „Tilt“ zu spielen, was ein Pokerbegriff für jemanden ist, der genau das Gegenteil tut.

Am besten ist es, gute Entscheidungen auf der Grundlage der vorliegenden Informationen zu treffen und dann das Glück der Karten oder der Aktienkurse spielen zu lassen. Auch an den Märkten sollten Anlageentscheidungen auf der Grundlage der vorliegenden Informationen getroffen und nur dann geändert werden, wenn sich die Informationen ändern, nicht weil die Ergebnisse nicht optimal waren. Ich schaue mir beispielsweise kaum ein Ergebnis von unter 100.000 Händen an (im Beispiel ein halbes Jahr), um Rückschlüsse auf eine mögliche Winrate ziehen zu können.

Flexibel bleiben, denn optimale Bedingungen sind selten

Da in der Praxis nicht immer genau meine gewünschte Partie mit meinen gewünschten schwachen Spielern zur Verfügung steht, die mir meine Winrate garantiert, muss ich auch flexibel sein und anstatt 5€/10€ Einsätze auch mal 10€/20€ spielen. Die Faustregel beim Poker ist, dass die Partie härter wird, je höher der Einsatz ist, weil auf den höchsten Limits die besten Spieler spielen.

Um auf meine 80.000€ Jahreslohn aus dem Beispiel zu kommen, müsste ich bei den doppelten Einsätzen natürlich auch nur noch mit einer Winrate von 2bb/100 gewinnen. Ebenso müsste ich in einer 2,50€/5€ Partie mit 8bb/100 gewinnen. Die beiden Graphen zeigen welchen Unterschied der Erwartungswert in der Praxis machen kann für die täglichen Swings.

Langfristig gewinnen

Die orange Linie in den nachfolgenden Graphen zeigt jeweils den All-In Erwartungswert an. Im vorherigen Beispiel „Asse gegen Damen“ also 81,33€ für die Asse oder +31,33€ Profit bei 50€ Einsatz.

Wenn ich die Hand und damit den ganzen Pot gewinne, steigt der grüne Graph, das tatsächliche Ergebnis, um 50€ Profit. Langfristig nähern sich diese beiden Graphen nach den Gesetzen der Statistik an. Von mir stammt dieser Graph aus einer $1/$2 Partie.

7,5bb/100 Winrate

Die Schönheit dieses ersten Graphen täuscht darüber hinweg, dass es auch hier Phasen mit etwa 20.000 Händen gab, in denen kein Profit gemacht wurde. Dennoch lässt es sich mit einem solchen Erwartungswert natürlich ruhiger schlafen. Solch eine Winrate erzielen auf hohen Limits aber wirklich nur die allerbesten Spieler.

Näher an der Realität liegt für die meisten Spieler, auch für mich, auf höheren Limits eine Winrate im Bereich 2,5 bb/100, und hier wird deutlich, dass Downswings von 100.000 Händen und bis zu 4.000 bb und mehr normal sind und häufig vorkommen. Trotzdem wurde hier nach 300.000 Händen das gewünschte Ergebnis von +8.000 bb erzielt.

2,5 bb/100 Winrate

Wie viel Risiko bin ich bereit einzugehen?

Es muss also jeder individuell entscheiden, was das richtige Risikoprofil ist. Spiele ich etwas niedrigere Einsätze und verdiene ein sichereres, aber begrenztes Einkommen oder riskiere ich etwas mehr mit der Chance viel zu gewinnen oder verlieren zu können?

Diese Entscheidungen gibt es ja auch so an den Finanzmärkten. Selbst wenn ich der beste Pokerspieler der Welt bin, werde ich, wenn ich bei jedem Spiel mein gesamtes Geld einsetze, letztendlich alles verlieren. Deswegen ist es wichtig, dass ich nur mit einem bestimmten Prozentsatz meines Kapitals spiele. Diversifizierung ist der Schlüssel.

Diversifizierung ist auch beim Pokern essentiell

Meine Herangehensweise ist so, dass ich meine Bankroll, also mein Kapital, das ich zum Spielen einsetze, strikt trenne von Kapital, welches ich für sonstige Ausgaben nutze. Wenn ich mir nun bewusst mache, dass 4.000 bb Downswings zur Normalität gehören, muss ich überlegen welche Einsätze für mich in Frage kommen. Besitze ich zum Beispiel 200.000€ und spiele 10€/20€, kann es passieren, dass ich 80.000€ (oder mehr) verliere und ein halbes Jahr (oder mehr) nur Verlust mache.

Wie würde sich das anfühlen? Müsste ich dann anfangen niedriger zu spielen? Warum habe ich nicht einfach ein schönes Auto gekauft? Bin ich überhaupt gut genug? Sollte ich vielleicht noch riskanter investieren, um meine Verluste wieder auszugleichen? Vielleicht hat sich der ein oder andere diese Fragen ja auch schon einmal in einem Bärenmarkt gestellt oder ist anders herum zu euphorisch geworden in einem Bullenmarkt. Diese Emotionen zu besitzen ist menschlich, aber es sollte eben nicht Überhand nehmen. Denn dann man kommt dann eben auch in den Bereich Zockerei/Glücksspiel.

Bei Poker wie an der Börse gilt…

Bewahre ich aber einen kühlen Kopf und kann nach einem großen Verlust oder Gewinn gute Entscheidungen treffen anhand der mir zur Verfügung stehenden Informationen? Betreibe ich außerdem gutes Risikomanagement und setze immer nur einen kleinen Teil meines Kapitals in jedem Spiel? Dann steht dem Erfolg nichts im Weg. To the moon 🚀

One Reply to “Gastbeitrag: Was haben Poker und Investieren gemeinsam? // Glücksspiel oder nicht”

  1. Vielen Dank für den professionellen Einblick in die Pokerwelt und Erwartungswerte.

    Insbesondere das Moneymanagement ist beim Investieren wirklich vergleichbar.

    Solche Artikel abseits des Tellerrandes machen den Blog wirklich interessant!

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