Funktioniert die 4% Regel? // Meine Überlegungen zur sicheren Entnahmerate

Glaskugel
Lesezeit: 13 Minuten

Funktioniert die 4% Regel auch für mich? Um herauszufinden, was meine FIRE-Zahl ist, habe ich mir letzte Woche zunächst Gedanken gemacht, wie viel Geld ich jedes Jahr eigentlich wirklich Brutto aus meinem Depot entnehmen muss, um mir den Lebensstil leisten zu können, den ich in meiner RE-Zeit haben möchte. Zudem habe ich die verschiedenen Annahmen, die diesem Bruttobetrag zu Grunde liegen, bewertet: Gehe ich hier durch konservative Annahmen ein niedriges Risiko ein oder kann alles doch ganz anders kommen?

Im Teil 2 geht es diese Woche um die anderen Annahmen, die über die Entscheidung zur Entnahmerate schlussendlich zu meiner FIRE-Zahl führen und das Risiko meines Finanzplans beeinflussen. Die gewählte Entnahmerate selbst ist wieder nur einer von vielen Faktoren. Die wichtigste Frage, die jeden FIRE-Plan stark beeinflusst ist zunächst folgende: Möchte ich mein angespartes Vermögen im Großen und Ganzen erhalten und nach meinem Tod vererben? Oder ist es okay für mich, wenn mein Depot irgendwann aufgebraucht ist? Und wenn ja, wann – vor (!) oder nach meinem Tod?

Was darf’s sein? Kapitalerhalt oder Kapitalverzehr

Es ist intuitiv einleuchtend, dass ein Plan, der auf Kapitalerhalt eines festen Betrags X ausgerichtet ist, deutlich weniger Risiko enthält als ein Konstrukt, wo das Geld planmäßig irgendwann ausgehen kann. Aber im Umkehrschluss muss man natürlich auch sehr viel mehr Geld ansparen, um immer oberhalb dieser gewünschten Mindestvermögensgröße X zu bleiben. Ich persönlich plane meine Finanzen nicht mit Kapitalerhalt. Stattdessen wäre es für mich auch in Ordnung, wenn im Alter von 100 Jahren kein Geld mehr übrig ist. Das entspricht 55 Jahren nach dem geplanten Renteneintritt.

Reicht es, bis 100 zu rechnen?

Die ferne Lebenserwartung von heute 65-Jährigen liegt aktuell bei 21 Jahren (für Frauen), das heißt, insgesamt liegt die Lebenserwartung, wenn man es erstmal bis 65 geschafft hat, bei 86 Jahren. Für heute 5-Jährige Mädchen wird prognostiziert, dass diese eine ferne Lebenserwartung von 23 Jahren haben werden, also 88 werden. Die durchschnittliche Lebenserwartung für heute 5-Jährige liegt hingegen bei „nur“ 83 Jahren. Wer es gerne konservativer hätte: Die Deutsche Aktuarvereinigung, also die Mathematiker hinter den Altersvorsorgeprodukten von Versicherungen, rechnen sogar mit noch höheren Altern (hier ein ganz netter Rechner zum Selbstrechnen). Und die Aktuare stehen ja quasi vor dem gleichen Problem: Sie sind dafür verantwortlich, dass den Versicherungen nicht das Geld für die Altersvorsorgeprodukte der Kunden ausgeht.

Ich würde meine Annahme, 100 zu werden, weder als besonders konservativ noch besonders optimistisch einstufen. Da ich FIRE nicht nur für mich, sondern gemeinsam mit Christoph plane, der als Mann statistisch gesehen eine deutlich geringere Lebenserwartung hat, schätze ich, dass von dieser Annahme insgesamt ein mittleres Risiko ausgeht. Bei dem langen Zeitraum von 55 Jahren, für den ich plane, gibt es kaum noch einen rechnerischen Unterschied zwischen „für immer“ und „für 55 Jahre“. Daher fasse ich dieses Kriterium ab jetzt mit dem akzeptierten Pleiterisiko zusammen. Für andere FIRE-Zeiträume bzw. einen hohen gewünschten Kapitalstock zum weiter vererben kann das aber doch einen stärkeren Unterschied machen.

FaktorNiedrigeres RisikoMittleres RisikoHöheres Risiko
Kapitalerhalt vs. KapitalverzehrKapitalerhalt für immer, d.h. kein vollständiger Kapitalverzehr basierend auf den historischen Verläufen des amerikanischen Aktienmarkts (für andere Aktienmärkte liegen meist nur Datenreihen von ca. 60 Jahren vor, die nach den Weltkriegen/großen Depression starten)Möglicher vollständiger Kapitalverzehr zum gewählten Zeitpunkt (=Lebenserwartung)Wie in der Trinity-Studie: Kein vollständiger Kapitalverzehr in den nächsten 30 Jahre nach Renteneintritt
Angenommene LebenserwartungDie älteste Frau der Welt wurde 122 – also ist man mit 125 Jahren als Annahme wohl auf der sicheren Seite?!100 Jahre (etwas konservativer als die Aktuare für mein Geburtsjahr als Durchschnitt prognostizieren)86 Jahre (aktuelle durchschnittliche ferne Lebenserwartung von 65-Jährigen Frauen)

Akzeptiertes Pleiterisiko / Sichere Entnahmerate (Safe Withdrawal Rate)

Eine der schwersten Entscheidungen, die es aus meiner Sicht in Bezug auf den eigenen FIRE-Plan zu treffen gibt, ist die zum Pleiterisiko. Mir geht es nicht leicht über die Lippen, zu sagen: „Ich bin bereit, mit 5% Wahrscheinlichkeit pleite zu gehen“. Was heißt das schon, 5% Wahrscheinlichkeit?

Aber wenn man wirklich auf 0% Pleitewahrscheinlichkeit hinplant, werden die Summe, die man ansparen muss, schnell sehr hoch. Damit wäre man dann finanziell darauf vorbereitet, zum aller blödesten Zeitpunkt, nämlich direkt vor einer Wiederholung der Weltwirtschaftskrise mit anschließendem Weltkrieg, in Rente zu gehen. Dafür hätte man auf der anderen Seite aber den Luxus zu wissen, dass man seinen Lebensstandard absolut nicht anpassen muss und auch keine zusätzlichen Einnahmen benötigt. Ob man bei so einem Verlauf an den Aktienmärkten wirklich so ruhig bleiben kann?

Das muss jeder für sich selbst herausfinden und entscheiden. Ich weiß, dass ich den Corona-Crash 2020 absolut entspannt durchlebt habe. Aber das war natürlich auch eine ganz andere Situation, denn aktuell bin ich ja nicht auf mein Depot angewiesen, um meinen Lebensunterhalt daraus zu bestreiten. Ich erinnere mich noch, dass damals während der Finanzkrise 2008, als ich gerade mit meiner Familie im Urlaub war, ein Freund meines Vaters ihn ziemlich nervös angerufen und um Rat in Bezug auf den Crash gefragt hat. Da waren wir gerade im Auto und der Freund daher über die Freisprechanlage zu hören. Obwohl sein Lebensunterhalt nicht von seinem Depot abhing, war er trotzdem ziemlich beunruhigt. „Cool bleiben!“ ist also oft leichter gesagt als getan.

Zurück zur Pleitewahrscheinlichkeit: Georg hat neulich eine interessante Grafik auf seinem Blog veröffentlicht, die auf den historischen Verläufen des S&P 500 Aktienindex beruht. Er stellt die möglichen Entnahmeraten in Abhängigkeit vom Pleiterisiko und der Dauer der Entnahmephase dar. Für meine geplante 55-jährige Entnahmephase ergibt sich bei der gewünschten Pleitewahrscheinlichkeit von 0% eine sichere Entnahmerate von ca. 2,8% des anfänglichen Depotwerts (statt 4% wie oft behauptet). Nah dran an den japanischen Verhältnissen! Akzeptiert man hingegen eine zehnprozentige Pleitewahrscheinlichkeit, steigt die sichere Entnahmerate für den gleichen Zeitraum auf über 4%. Um es mal ein bisschen weniger abstrakt zu machen: Der vermeintlich kleine Unterschied zwischen den beiden Entnahmeraten entspricht in meinem Finanzplan über 700.000 Euro Unterschied bzw. über 40% mehr ansparen, bevor FIRE erreicht wäre.

Ich will nicht auf keinen Fall pleite gehen

Wie gesagt fällt mir diese Entscheidung ziemlich schwer, da die Pleitewahrscheinlichkeit so abstrakt ist. Ich bin mir aber bereits heute sicher, dass ich nicht auf 0% historische Pleitewahrscheinlichkeit hinsparen werde. Denn wirklich groß ist die Gefahr, irgendwann später pleite zu gehen, nur in den ersten paar Jahren nach FIRE. Wenn man die ersten 10 Jahre nach dem Renteneintritt halbwegs gut überstanden hat, kann man sich recht entspannt zurücklehnen. Und nur weil ich ab 45 Jahren nicht mehr arbeiten möchte, heißt das ja nicht, dass ich es definitiv nie wieder tun würde.

Sollte in den ersten 5-10 Jahren nach unserem Renteneintritt tatsächlich eine schwere Wirtschaftskrise ausbrechen, die die Aktienmärkte in den freien Fall versetzt, hätte ich kein Problem damit, einen kleinen Nebenjob anzunehmen, um das Depot etwas zu schützen. Zwar möchte ich dieses Szenario natürlich vermeiden, aber gleichzeitig halte ich es persönlich in Anbetracht dieser Möglichkeit für zu konservativ, wirklich auf 0% Pleitewahrscheinlichkeit hinzuplanen. Bei 1% Pleitewahrscheinlichkeit ergibt sich über einen Zeitraum von 55 Jahren laut Georgs Berechnungen eine sichere Entnahmerate von ca. 3,5%. Im Moment ist das die Zahl, mit der ich für meinen Finanzplan rechne. Ob ich hier in Zukunft nicht doch noch mehr Risiko akzeptieren möchte, habe ich für mich aber noch nicht abschließend geklärt.

FaktorNiedrigeres RisikoMittleres RisikoHöheres Risiko
Pleitewahrscheinlichkeit
und entsprechende sichere Entnahmerate (SWR)
für einen Zeitraum von 55 Jahren
0%
entspricht ca. 2,8% SWR
1%
entspricht ca. 3,5% SWR
5-10%
entspricht ca. 3,9-4% SWR

Reale (durchschnittliche) Rendite

Was mich in den letzten Wochen stark beeinflusst hat, bei der Entnahmerate doch noch einmal über mehr Risiko nachzudenken, ist der recht simple FIRE-Rechner von Jeremy von Personal Finance Club. Man kann dort sein Alter, den gewünschten Rentenbeginn, das aktuelle Vermögen, die Sparrate und das gewünschte Bruttobudget pro Jahr eingeben und bekommt dann eine hübsche Grafik angezeigt, wie sich das Vermögen entwickelt, je nach ausgewählter Rendite. Solche Rechner gibt es einige. Man kann in diesem aber statt der durchschnittlichen Rendite aber auch ein Startjahr für den S&P 500 vorgeben und sieht dann statt hübscher glatter Durchschnittskurven den historischen Verlauf. Und für die allermeisten Startjahre ergibt sich auf Basis dieser historischen Verläufe zum 80. Geburtstag ein unglaublich hohes Vermögen, meist im hohen einstelligen Millionenbereich!

Eigentlich habe ich das auch schon vorher gewusst, aber wohl nie so ganz realisiert. Bei all den Kurven in der Trinity-Studie und anderen Artikeln über die 4%-Regel gibt es eigentlich immer diese eine Grafik, wo man alle die Kurven sieht, die historische Portfolioverläufe darstellen. Für FIRE konzentrieren wir uns auf die Linien, die nach unten zeigen bzw. unter Null gehen. Diese Linien sind das, worüber wir sprechen, wenn es um die Pleitewahrscheinlichkeit geht. Aber auf all die Linien, die nicht nur oberhalb von Null bleiben, sondern stark nach oben streben – dafür habe ich irgendwie nie ein Auge gehabt. Entscheide ich mich für 1% Pleitewahrscheinlichkeit, dann läuft eine von 100 dieser historischen Verlaufslinien unter Null. Aber sehr, sehr viele Linien streben ganz weit nach oben. Hier mal ein Beispiel solch einer Grafik von FIREcalc, einem der umfangreichsten FIRE-Rechner basierend auf historischen Daten des S&P 500 (und dann auch noch online & kostenlos!):

FireCalc Resultat
Simulationsergebnis von firecalc.com für einen 55-Jahreszeitraum. Ein Großteil der 95 Linien liegt am Ende (rechts) weit über dem Anfangsvermögen (links). Drei Szenarien führen zur Pleite.

Man sieht, dass von den 95 Linien (mehr Daten von 55-jährigen Zeiträumen gibt es nicht seit 1871) zwei deutlich unter die schwarze Nulllinie laufen. Eine dritte historische Linie läuft auch knapp unter Null, das ist nur durch meine nachträglich eingezeichnete schwarze Nulllinie verdeckt. Entspricht also einer Erfolgswahrscheinlichkeit von 96,8% bzw. 3,2% Pleitewahrscheinlichkeit. Aber man kann auf dieser Grafik auch sehen, dass mehr als 10 Linien über 25 Millionen landen! Das entspricht einer Wahrscheinlichkeit von über 10%, als 100-Jährige mit diesem schier unvorstellbaren Vermögen zu enden.

Historische S&P 500 Rendite vs Durchschnittswerte

In der FIRE-Community rechnen die meisten ihre Pläne auf Basis der historischen Daten des S&P500 durch. Aber diese Simulationen machen einige Rechnungen ziemlich kompliziert. Man muss bei diesem Vorgehen die Rechnung ja nicht nur einmal durchführen, sondern teilweise über 100 Mal, für die verschiedenen Startjahre seit 1871 (Startpunkt der verfügbaren S&P 500-Datensätze). Diese >100 individuellen Ergebnisse müssen dann wieder in Wahrscheinlichkeiten zusammengefasst werden, die automatisch einen hohen Abstraktionsgrad erzeugen. Einfacher ist es da doch, mit der durchschnittlichen Rendite zu rechnen. So ignoriert man zwar das Sequence-of-Returns-Risiko, aber oft reicht das für eine grobe Überschlagsrechnung aus. Aber welche durchschnittliche (reale) Rendite ist realistisch?

Ich persönlich rechne eigentlich immer mit 5% realer Rendite. Das ist aus meiner Sicht bereits eine eher optimistische Annahme. Viele Finanzblogger gestalten ihre Zahlenbeispiele gerne mit 7% realer Rendite oder 10% nomineller Rendite. Das sieht dann natürlich nach super Wachstumschancen aus. Diese Annahme stützt sich aber durchaus auf historische Fakten.

Zwischen 1950 und 2009 stieg der S&P 500 durchschnittlich jährlich um ca. 7 Prozent (reale Rendite). Beim DAX sieht es ähnlich aus. Aber diese Durchschnittswerte hängen stark von dem Zeitfenster ab, das man für die Durchschnittsbildung verwendet. So bekamen Anleger am amerikanischen Aktienmarkt von 1900 bis 1949 nur eine durchschnittliche jährliche reale Rendite von 5,3%. Schaut man sich wiederum nur die letzten 10 Jahre an, lag die reale Rendite des S&P 500 deutlich über 10%. Welche Annahme sollte man also am besten treffen?

Das hängt stark davon ab, ob ich es für realistisch erachte, dass sich solche Ausreißer wie die Weltwirtschaftskrise, Weltkriege, Hyperinflation, Pandemien etc. in Zukunft wiederholen werden. Gerade wenn man dies ausschließt und daher z.B. den Durchschnitt seit 1950 nimmt, ist das meiner Meinung nach doch etwas zu optimistisch. Denn gerade ab 1950 begann – nach all den Katastrophen, die man gerade vom Durchschnitt ausgeschlossen hat – eine Phase von starkem Wirtschaftswachstum, die sich natürlich auch an den Aktienmärkten niedergeschlagen hat. Ob wir ausgehend von dem aktuellen Null- bzw. Negativzinsumfeld in Zukunft weiter solche Wachstumsraten sehen werden wie in der jüngeren Vergangenheit, hat mir meine Glaskugel leider nicht verraten.

Am Ende lässt sich die Frage nach der richtigen durchschnittlichen realen Rendite nicht seriös beantworten. Obwohl die Entwicklung der Vergangenheit nichts über die Entwicklung in der Zukunft aussagt, sind die historischen Werte nun einmal die besten Werte, die wir aktuell als Orientierung haben. Und da die Datenverfügbarkeit für den amerikanischen S&P 500 am besten ist, wird eben oft dessen historische Rendite für alle möglichen Rechnung genutzt. Eine bessere Idee habe ich auch nicht unbedingt. Aber für meinen persönlichen Finanzplan rechne ich lieber mit einem Abschlag gegenüber diesen historischen Durchschnitten und würde diese Annahme daher der Kategorie „mittleres Risiko“ zuordnen.

FaktorNiedrigeres RisikoMittleres RisikoHöheres Risiko
Reale Rendite3% – 4%
(mit der Annahme ist es aber kaum noch realistisch, FIRE zu erreichen)
5% – 6%
(persönliches Bauchgefühl)
7% – 8%
(langfristiger historischer Durchschnitt des amerikanischen S&P 500 und des DAX)

Puffer

Wie ich schon öfter geschrieben habe, enthält mein Finanzplan eine ganze Reihe von Puffern: Ich ignoriere bei meinen Berechnungen die gesetzliche Rente, etwaige Betriebsrenten und unsere jeweiligen Riester-/Rürup-Rentenverträge. Das sind zwar keine Riesensummen, aber trotzdem helfen diese zusätzlichen Puffer dann ab dem offiziellen Rentenalter, falls sich Unvorhergesehenes ergeben sollte. Je nach Höhe der bereits erworbenen Rentenanwartschaften macht es natürlich durchaus Sinn, diese auch im eigenen Finanzplan zu berücksichtigen. Ansonsten rückt FIRE bzw. der Vorruhestand für viele in unerreichbare Ferne. Als junger Mensch mit noch relativ geringen Rentenansprüchen bzw. einer langen Zeit zwischen FIRE (45) und dem offiziellen Rentenalter (wahrscheinlich 70), macht die Berücksichtigung der Rente aber tatsächlich relativ wenig aus. Ich habe es auf verschiedene Arten bereits durchgerechnet – mehr als ein Jahr näher zu FIRE bringen mich diese Puffer nicht. Dann lasse ich es lieber weg und weiß, dass ich hier kein zusätzliches Risiko durch Fehlannahmen in meinen Plan bringe.

In eine ähnliche Kategorie, nämlich weit entfernte Geldströme, die nicht Teil meines Finanzplans sind, fällt das Thema Erben. Für viele Deutsche tragen Erbschaften einen signifikanten Teil zum eigenen Vermögen bei. In einem Drittel aller Erbfälle werden zwischen 150.000 Euro und 250.000 Euro vererbt. 20% liegen sogar noch darüber. Der Durchschnittswert, der allerdings von den sehr großen Ausreißern am oberen Ende verzerrt ist, liegt bei 305.000 Euro pro Erbfall. Das Geld wird dabei aber meist auf mehrere Personen verteilt. Zum Thema Erbschaften plane ich bald noch einen eigenen Artikel zu schreiben (hier entlang) – spannendes Finanzthema, wie ich finde, da hier wirklich sehr sichtbar wird, wie unterschiedlich doch die Startbedingungen mancher Menschen sein können.

FaktorNiedrigeres RisikoMittleres RisikoHöheres Risiko
RentenNicht Teil des FinanzplansAbdiskontierter Barwert der RenteAnnahme von weiteren Wertsteigerungen (z.B. jährliche Rentenerhöhung)
ErbeNicht Teil des FinanzplansAbdiskontierter Barwert des ErbesAnnahme von weiteren Wertsteigerungen (z.B. bei Immobilienbesitz)

Entnahmestrategie als weiterer Faktor?

Es gibt noch eine Kategorie von Faktoren, mit der man das Risiko seines Gesamtplans potentiell senken könnte. Und zwar geht es dabei um spezielle Entnahmestrategie. Die gibt es wie Sand am Meer, sei es „Yield Shield„, „Cash Zelt“, „CAPE“ oder „dynamische Gold-Beimischung„. Besonders beliebt sind dabei jene Strategie wie das Cash Zelt, die besonders die Anfangsjahre von FIRE vor dem Sequence-of-Returns-Risiko schützen sollen. Ich habe mich damit bisher nicht intensiv genug beschäftigt, um mir eine eigene Meinung bilden zu können, ob ich eine oder mehrere dieser Strategie in meinen Plan einbauen möchte.

Aus dem Bauch heraus würde ich sagen, dass ein Plan, der auch ganz ohne diese Zusatzstrategien funktioniert, am sichersten ist. Je komplizierter die Strategie ist, die ich anwenden muss, damit mein Plan dann schlussendlich funktioniert, desto höher das Risiko, dass ich mit dieser Entscheidung/Strategie doch falsch lag. Andersherum versprechen diese Strategien ja gerade ceteris paribus, das Risiko des Gesamtplans zu senken. Etwas kompliziert um die Ecke gedacht…

Es gibt aber einen kleinen Puffer, der meine Finanzsituation in der Zeit direkt nach FIRE definitiv entspannen könnte und keine komplizierte Rechnung erfordert: Das gute, alte Arbeitslosengeld (ALG I). Klar, wenn man selbst kündigt, wird man zunächst für 3 Monate vom Bezug von Arbeitslosengeld gesperrt. Aber danach erhält man für bis zu 12 Monate ALG I, solange man weiterhin arbeitssuchend ist. Das ist aber auch der Knackpunkt: Ich werde ja gerade nicht wirklich arbeitssuchend sein. Eine ethisch-moralische Frage also, ob es okay ist, wenn ich nach FIRE ALG I beantragen sollte, auch wenn ich gar nicht mehr vorhabe, zu arbeiten. Beim Thema Krankenversicherung wäre das auf jeden Fall eine starke finanzielle Entlastung und das Zusatzeinkommen schadet auch nicht. Wahrscheinlich werde ich mich aber eher dagegen entscheiden. Wirklich brauchen tue ich das Geld ja dann nun wirklich nicht mehr!

FaktorNiedrigeres RisikoMittleres RisikoHöheres Risiko
EntnahmestrategienTBDTBDTBD
Arbeitslosengeld INicht Teil des Finanzplans
(positive Zusatzeffekte nicht einzubeziehen, senkt immer das Risiko des Plans – wenn er auch ohne diesen Windfall Profit funktioniert, umso besser)
Einrechnung des Effekts auf die Krankenversicherungsbeiträge, aber keine Integration der Einnahmen in den Finanzplan (könnte man ja z.B. an ein gemeinnütziges Projekt spenden)Volle Integration in den Finanzplan
(so besteht das Risiko, als nicht tatsächlich arbeitssuchend überführt zu werden und die Zahlungen ggf. gestrichen oder gekürzt zu bekommen)

Zusammenfassung zur sicheren Entnahmerate

Insgesamt halte ich die Annahmen in meinem FIRE-Plan für relativ ausgewogen. Ein hohes Risiko gehe ich eigentlich nur beim Thema Steuern ein (siehe Teil 1), indem ich annehme, dass alles so bleibt wie es derzeit ist. Eine bessere Annahme ist aber auf Grund der Vielzahl an möglichen Veränderungen kaum möglich. Im Vergleich zu vielen „Standardannahmen“ in der FIRE-Community fühle ich mich mit meinen etwas konservativeren Annahmen zur Lebenserwartung, sicheren Entnahmerate (SWR) von 3,5% statt 4% und der Annahme zur realen Rendite unterhalb des langjährigen historischen Durchschnitts ganz gut aufgestellt. Kombiniert mit den verschiedenen Puffern und der bewusst eher hoch geschätzten benötigten jährlich Bruttoentnahme aus dem Depot (siehe Teil 1), fühle ich mich derzeit ziemlich wohl mit diesem Plan für FIRE.

FaktorNiedrigeres RisikoMittleres RisikoHöheres Risiko
Angenommene Lebenserwartung100 Jahre
Akzeptierte Pleitewahrscheinlichkeit
und entsprechende sichere Entnahmerate (SWR)
für einen Zeitraum von 55 Jahren
1%
entspricht ca. 3,5% SWR
??
Reale Rendite5% – 6%
RentenNicht Teil meines Finanzplans
ErbeNicht Teil meines Finanzplans
EntnahmestrategienDerzeit nicht Teil meines FinanzplansTBDTBD
Arbeitslosengeld INicht Teil meines Finanzplans

Was ist denn jetzt deine FIRE-Zahl?

Nimmt man alle Faktoren zusammen und berücksichtigt noch die Inflation (die aus der berechneten FIRE-Zahl von heute, bis zu FIRE in 15 Jahren nochmal eine nominell höhere Zahl werden lässt), dann werden Christoph und ich wohl als Millionärsfamilie in Rente gehen. Aktuell sehe ich uns auf einem guten Weg, das Ziel, FIRE mit 45, trotz dieser für mich heute noch unvorstellbar hohen FIRE-Zahl zu erreichen. Das Wunder des Zinses-Zins! Wenn wir an der ein oder anderen Stelle noch ein wenig mehr Risiko akzeptieren würden oder sich die Aktienmärkte deutlich besser als angenommen entwickeln, könnte es sogar ein wenig früher klappen. Ich bin gespannt und werde weiterhin berichten, wie es läuft 🙂

Mit welchen Annahmen rechnest du in deinem Finanzplan? An welchen Stellen akzeptierst du mehr Risiko auf dem Weg zu FIRE? Wo sollte ich deiner Meinung nach noch konservativer sein? Gibt es noch Annahmen, die ich aus deiner Sicht bisher ignoriert habe?

9 Replies to “Funktioniert die 4% Regel? // Meine Überlegungen zur sicheren Entnahmerate”

  1. wollte noch wie-alt-werde-ich.de in den Ring werfen

    Das bezieht nicht ganz uneigennützig auch ein paar biometrische bzw. Lifestyle-Faktoren mit ein. So wird bei mir (77/m) aus 88 gleich eine 97. Bei einer Rechnung mit 100 wäre ich also auch „safe“

    1. Danke für den Tipp! Da komme ich auf 92, was ich doch recht viel finde für meinen ehrlicherweise recht ungesunden Lebensstil 🙈

  2. Moin Jenni,

    Danke für die Links! Beim Lesen musste ich oft an den Artikel denken den ich gerade schreibe, Arbeitstitel: so kann Rente mit 40 gelingen. Ich glaube dieser Artikel wird deinen hier sehr gut ergänzen. Es geht darum wie man trotz 60 Jahre Planungshorizont sicher 4% pro Jahr entnehmen kann. Ich bin schon auf Deine Meinung gespannt 🙂

    Guten Start in die Woche!

  3. Hi Jenni, grandios dein Artikel! Den firecalc.com kannte ich noch nicht – toller Tipp! Ich bin sooo gespannt, wie es mit eurem Fire-45-Plan weitergeht und wünsche euch natürlich auf jeden Fall, dass der Plan aufgeht 💪 LG Jasmina

  4. Ich glaube das Sequence-of-Return-Risk hat sich nicht erledigt wenn man die ersten ca. 10J seiner Entnahmephase rum hat. Nur die Folgen werden durch den sich verkürzenden Entnahmezeitraum kleiner. Damit bleibt das SRR auch 10J nach dem Ruhestandseintritt beim vorzeitigen Ruhestand mit einem Entnahmezeitraum von vielleicht 60J kritischer als bei einem „normalen“ Ruhestand mit vielleicht 25J.

    Siehe „When Can We Stop Worrying about Sequence Risk? „https://earlyretirementnow.com/2020/07/15/when-can-we-stop-worrying-about-sequence-risk-swr-series-part-38/

    1. Bei so einer langen RE-Phase wie ich sie plane (ca. 60 Jahre), sind viele der „normalen“ Ratschläge für Rentner (mit 30-40 Jahren Zeithorizont) tatsächlich mit Vorsicht zu genießen. Ich plane daher lieber mehr Puffer ein!

      1. Genau!

        Zum Puffern gegen das SRR finde ich auch folgenden Aspekt bedenkenswert: Aus einem vom SRR gerissenen Loch wieder herauszukommen ist komplexer als ich zuerst dachte, weil man u.a. nicht bloß die fehlende Rendite durch Rücklagen oder Verzicht ausgleichen muss, sondern auch die entgangene Entwicklung des Portfolios (evtl. durch Nachschießen), siehe ungefähr hier Myth #2: Flexibility has to last only as long as the downturn
        https://earlyretirementnow.com/2018/05/09/the-ultimate-guide-to-safe-withdrawal-rates-part-24-flexibility-myths-vs-reality/

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